Das Wasser kommt, das Wasser geht, doch wie funktioniert es eigentlich, wenn man mit seinem Boot dort bleiben möchte, wo das Wasser verschwindet und dann auf einmal der Meeresgrund zum Vorschein kommt? Einfach warten bis das Wasser weg ist und dann? Kippt man nicht um, liegt sehkuhgleich auf dem Trockenen, quasi im falschen Element?
Nordseesegler Holger Peterson weiß nicht nur wie es geht, sondern auch „Wie wir im Norden segeln“, denn so heißt eines seiner Segelbücher. Für uns hat er noch einmal das Wie und Wo des Trockenfallens zusammengefasst.
Eigentlich ist es ganz einfach – jedenfalls wenn man ein Boot hat, das nicht umkippt oder das ein paar Stunden auf der Seite liegen kann, ohne Kraftstoff aus der Tankentlüftung zu verlieren: Man setzt den Kahn langsam auf Grund, bis das Wasser fällt. Dann steht man solange herum, bis es wiederkommt. Solange sich der Mond um die Erde dreht, sind die Chancen gut, auch wieder aufzuschwimmen.
Jedoch - die Gleichung kann zuweilen mehre Unbekannte enthalten: Tidenhub, Windrichtung, Stromstärke, Ankergrund. Die Ängste vor dem „ersten Mal“ sind groß, denn wenn der Kahn erst einmal aufliegt und der Wasserspiegel auch nur um einen Zentimeter gesunken ist, lässt sich nichts mehr verändern.
Die zentralen Fragen aller Trockenfallfragen lautendementsprechend: Wie wird das Wetter sein, wenn die Wellen wiederkommen? Können bei einem schief stehenden Boot Kiel- und Ruder beschädigt werden? Hält der Untergrund, was er verspricht? Und wenn das Boot doch umkippt - säuft es bei wiederkehrendem Flutstrom ab?
Zunächst: Ein stabiler Rumpf steckt die Belastungen des Trockenfallens locker weg. Selbst wenn das Boot auf der Wattkante steht - warum sollte die Neigekraft des Kiels an der Wurzel größer sein, als bei 30 Grad Lage, wenn wir segeln? Beim Trockenfallen können größere Hebelkräfte nur durch zwei Faktoren eintreten: Wenn sich Kiele zwischen Felsen verkeilen oder hohe Wellen das Boot immer wieder hart auf den Grund setzen. Letzteres sollte selten vorkommen, weil man gewöhnlich nicht auf Legerwall ankert. Aber wenn sich wider Erwarten der Wind gedreht hat, muss das Boot tatsächlich Schläge wegstecken, weil es je nach Wellenhöhe bis zu einer halben Stunde immer wieder angehoben und auf den Grund gesetzt wird. Der besteht in der Regel aus festem Sand, denn im weichen Schlammfeld mag niemand aussteigen und Anker halten dort auch nicht besonders gut. Wer einen voll verschweißten Metallrumpf hat, das Ruder gar einen Skeg mit drittem Lager, hat weniger Grund zur Sorge. Anders sieht es bei GFK-Rümpfen mit untergebolzten Kielen und freistehenden Spatenrudern aus, die beim Aufschwimmen nicht zu hohen Wellen ausgesetzt werden sollten.
Auch sollte man darauf achten, nicht an einer zu steilen Sandbank trockenzufallen: Wenn der Rumpf zu steil nach oben steht, kann bei fallendem Wasserstand der Auftrieb des Hecks nicht mehr ausreichen. Bei Motorbooten kann außerdem über die Lüftungsgitter am Heck viel Wasser eintreten. Jüngst haben mehrere Segler mit vereinten Kräften an der Wangerooger Ostflanke gerade noch verhindern können, dass eine Motoryacht abgesoffen ist. Die Maschine stand bereits vollständig unter Wasser – der Kahn wurde von den Seenotrettern abgeschleppt. Grund des eigentlichen Malheurs war ein völlig unzureichender Klappdraggen ohne Kette, der nachts im starken Strom der Blauen Balje nicht halten konnte. Und die fehlende Ankerwache!
Wer sich aber das Trockenfallen zutraut und ein paar Sicherheitsregeln beachtet, erlebt die ganze faszinierend-dreidimensionale Vielfalt der Nordseeküste und das ist zugleich ein Fest für Fotofreunde; nirgendwo lassen sich unterschiedliche Formen und Farben intensiver einfangen. Denn liegt der Meeresboden frei, lädt uns Neptun in seinen Garten ein. Genial gut zum Baden sind auch die Flutmulden der Spülsäume, denn darin findet jeder seine persönliche „Sandstrandwanne“, in der sich das Wasser durch die Sonne schnell erwärmt. Sofern das Boot aufrecht stehen bleibt, ist es eine Zeit der Ruhe – frei von jeder Dümpelei. Die Nordseeküste bietet zweimal am Tag ein Trockendock, in dem man - nebenbei - Opferanoden austauschen oder die Seepocken vom Propeller schaben kann.
Der richtige Platz …
… ist fest und eben. Das lässt sich zunächst aus dem flach ansteigenden Strand- und dem Strombild erkennen. Wo das Wasser Turbulenzen bildet, ist der Strom stärker. Wir suchen möglichst einen Bereich mit geringem Strom. Richtet man den Rumpf „Ruder mitschiffs“ im Verlauf zum Strom aus, ist man auf der sicheren Seite, auch gerade zu stehen, ohne dass die Kiele weiter unterspült werden. Nun kann es aber sein, dass bei fallendem Wasserstand eine Querstromrinne quer zur Kiellinie entsteht. Eben das erkennt man an der Richtung des Wellenbildes. Quersetzender Strom hat zur Folge, dass sich die zunächst gerade stehende Lage des Rumpfes nach und nach verändert. Daher gilt: Ein gleichmäßiges Wellenbild, dort wo der Pegel weitgehend strömungsfrei sinkt, ist oft schon wenige Meter weiter von einer Balje entfernt zu finden. Daran sollte man sich halten.
Fest oder schlammig?
Wo sich zwei Tidenströme aufheben, sind die feinen Sedimente zu finden. Durch die Baljen fließen sie um die Inseln oder Sandbänke herum und treffen sich quasi in der Mitte. Gewöhnlich ist das der untiefe Bereich eines Prickenweges, das sogenannte Wattenhoch. Je weiter man davon entfernt ist, desto fester wird der Sandgrund sein. Ist der Schlamm sehr tief, wird man schlimmstenfalls bis zum Bauch im Morast wandern - und nicht weit kommen. Außerdem findet der Anker bei Starkwind in der Mudde keinen Halt. Ein Tipp: zunächst im tiefen Wasser ankern und sich das Areal einfach bei Ebbe ansehen. Doch auch nach der Sichtung und der Kontrolle in Badehose können besonders Kimmkieler in Westlagunen der ostfriesischen Inseln zu ungeahnter Lage kippen. Westliche Lagunen der beliebten ostfriesischen Inseln haben im Gegensatz zu Ostflanken den Nachteil, dass sich hier mit der Westwinddrift feine Sedimente ablagern, die zwar am Grund eine halbwegs feste Tonschickt bilden, aber darunter vielerorts bodenlose Mudde einschließen. Mit den Füßen ist diese Instabilität nicht zu ertasten. Für Plattbodenschiffe, Jollenkreuzer, Schwenkkieler, Kata- oder Trimarane spielt der „Westlagunenfaktor“ keine Rolle, aber Kimmkielsegler können bei fallendem Wasserstand in unkomfortable Situationen mit bis zu 30 Grad Lage geraten, wenn nur einer der Kiele durch die Tonschicht sinkt.
Zeitpunkt und Windrichtung
Ein Törnbericht mit einer Gewitterlage bei Wangerooge.
Bezugspunkt von Wangerooge ist der Pegel Wilhelmshaven; Hochwasser ist um 13:37 Uhr - bei Wangerooge-Ost dagegen 52 Minuten früher. Weil es auf die Minute nicht ankommt, zieht man großzügig eine Stunde ab und rechnet mit dem Hochwasser bei Wangerooge um 12:30 Uhr. Es ist Neumond, also kann bei Springtide und westlichen Winden mit einem hohen Pegelstand von mindestens 3 Metern gerechnet werden.
Der Segler hat Kimmkiele mit 1,30 Meter Tiefgang. Er kommt aus der Jade und steuert um 14:00 – eineinhalb Stunden nach HW - bei schneller fallendem Pegel südlich von Minsener Oog die Blaue Balje an. Da überquert er das Wattenhoch von Minsener Oog, das bei NW um einen Meter trockenfällt, und hat jetzt abzüglich seines eigenen Tiefgangs erfahrungsgemäß noch gut 20 Zentimeter unter den Kimmkielen. Die Telegraphenbalje, das zweite Wattenhoch, trennt ihn vom Hafen von Wangerooge. Das Wasser fällt in der 3. Stunde nach Hochwasser um weitere 70 Zentimeter in der Stunde. Er könnte versuchen, noch so eben „rüberzurutschen, aber wenn er festkommt, kann er sich den Platz dafür auf dem Wattenhoch nicht mehr aussuchen, und da ist es bekanntermaßen schlammig. So entscheidet er sich für den festen Sandgrund am ehemaligen Anleger „Wangerooge Ost“. Um 15:00 Uhr, also zweieinhalb Stunden nach Hochwasser, ist der ideale Zeitpunkt zum Aufsetzen der Kiele auf die Sandbank, denn dann wird er auch zweieinhalb Stunden vor Hochwasser wieder aufschwimmen, um das nächste Wattenhoch zum Hafen von Wangerooge oder zur Weiterfahrt nach Spiekeroog zu passieren.
Zwischen der letzten roten Tonne und der Dreierpricke könnte er sein Boot nun stumpf auf den flachen Strand setzen und würde aufrecht stehen. Stellt er die Kiele in Stromrichtung, werden sie sich auch nicht einspülen – der perfekte Platz. Das Wasser ist zur Mitte der 3. Stunde nach Hochwasser um rund einen Meter gefallen. Selbst wenn sich der Wind nach Osten drehen sollte und das nächste Hochwasser 50 Zentimeter weniger hoch aufläuft, wird er noch vor dem nächsten Hochwasser wieder abdampfen können.
Das direkte Trockenfallen hat nur einen Nachteil: Der Platz liegt kaum 30 Meter von den Pfählen des ehemaligen Anlegers entfernt. Sollte der Wind zur Nachtzeit auf Süd drehen, hätte er keinen ausreichenden Abstand, um auf Legerwall die Ankerkette zu verlängern. Und wenn dann der Anker nicht hält oder gar ein Schäkel bricht, wäre die Reaktion nicht mehr möglich: Die Yacht würde bei Hochwasser stranden und ließe sich ohne Spezialfahrzeuge vielleicht wochenlang nicht mehr bergen.
Einen halben Meter „Sicherheitsreserve“, falls die nächste Flut nicht so hoch aufläuft
Der Segler hält deswegen mehr Abstand zu den Pfählen und ankert zweieinhalb Stunden nach Hochwasser auf zunächst auf 50 Zentimeter Wassertiefe. So zündet er den Bordgrill auf dem Vordeck an und brutzelt die erste Wurst. Rund 70 Zentimeter fällt der Pegel in der dritten Stunde nach HW – also vermelden sanfte Stöße nach 40 Minuten, dass die Kiele aufsetzen. Mit dem Bootshaken lotet er die Wassertiefe – auf beiden Seiten 1,30 Meter. Nun greift er zur Senftube und genießt den weiten Blick. Unterdessen nähert sich eine weitere Segelyacht und fährt direkt auf den Strand – näher am Ufer. Als er mit dem Essen fertig ist und abgewaschen hat, stehen nur noch 20 Zentimeter Wasser – die Badeleiter fällt. Auf zum Strandspaziergang.
Gewitterlage
Als er zurückkehrt, meldet Jade Traffic auf Kanal 20 zu seiner Überraschung eine Gewitterfront, die vom Festland her im Verlauf der Nacht die Nordseeküste erreicht: Sturmböen bis zu 10 Beaufort, Windrichtung unklar. Zuvor wehte der Wind aus Süd-Ost 3, soll aber zur Nacht auf West 4-5 aufbrisen. West, Nord und Nordost sind südlich von Wangerooge kein Problem, aber wie sicher kann eine Vorhersage bei einer Gewitterfront sein? Der Segler verlängert die Ankerkette von 15 auf 30 Meter, bei HW ist das die fünfzehnfache Wassertiefe. Diese Chance hat der andere Segler, der hoch auf dem Strand trockengefallen ist, nicht mehr, denn bei Südwind würde er mit den Pfählen des alten Anlegers kollidieren.
Um Mitternacht schwimmt das Boot wieder auf. Regen setzt ein und unser Segler erlebt ein ungeheures Naturschauspiel: Das Meeresleuchten ist so intensiv, wie er es nie gesehen hat. Jeder Regentropfen hinterlässt ein grünes Gespenstermännchen auf dem Wasser. Und seine Ankerkette leuchtet wie eine Neonpeitsche aus der Tiefe. Irgendwie dämonisch. Doch ausgerechnet jetzt – beim Aufschwimmen - heulen die ersten Sturmböen im Rigg. Blitze zucken durch die Nacht. Der Segler zählt bis zehn – dann donnert es. Die Front ist über dem Festland in Sicht und kommt näher. Nun dreht der Wind auch noch auf Süd – verdammt - sein Boot gerät auf Legerwall. Von wegen, „zur Nachtzeit dreht der Wind auf West“… der Wettermann hat sich vertan. Doch weil das Wasser noch flach ist und Sandbänke im Watt jetzt noch nicht überspült werden, ist der Seegang trotz der ersten Böen von 7 – 8 Beaufort moderat. Sanft hebt sich die Yacht aus dem Sandbett. Das wird hier in einer Stunde anders sein: Zeit über „Plan B“ nachzudenken.
Ankerwache
Auf Legerwall zu liegen, bedeutet immer, eine Ankerwache mit der Bereitschaft zum sofortigen Maschinenstart einzusetzen. Wenn der Skipper sonst den Wecker stellt und aus den Kojenfenstern die Nachbarlieger peilt, ist das bei anrollenden Seen und der Brandung in Lee eben anders. Im geschlossenen Cockpit macht er es sich bequem, während der Regen auf die Persenning trommelt. Das Echolot und den Windmesser hat er im Blick. Und er hat eine Reihe von Sicherheitsvorkehrungen getroffen: Maschine warmlaufen lassen, damit sie notfalls gleich anspringt. Taschenlampe in der Jackentasche. Ankerfernbedienung angeschlossen. Den Seekartenplotter hochgefahren. Handscheinwerfer ausprobiert und die Dreierpricke angestrahlt, hinter der er tiefes Wasser findet. Die Kompasspeilung hat er notiert. Wenn eine weiße Regenwand die Orientierung unmöglich macht, kennt er zumindest die Fluchtrichtung. Noch orientiert er sich am Leuchtfeuer Wangerooge, dessen roter Finger durch die Nach leuchtet.
Einen zweiten Anker bringt er nicht aus. Er hält nur einen Bügelanker an einer Leine mit Kettenvorlauf in Reserve bereit. Aus Erfahrung weiß er, dass die anderen Boote auch keine Zweitanker in Gegenstromrichtung legen. Wenn alle in dieselbe Richtung driften, sollte er sich nicht sperren. Zudem ist es gut, wenn man notfalls verduften kann und seinen Anker mitnimmt, um einem unkontrolliert driftenden Kollegen aus dem Weg zu gehen. Zwei Jahre zuvor hat er erlebt, wie ein 50 Tonnen schweres Traditionsschiff durch ein Ankerfeld gepflügt ist, bei dem tiefergehende Yachten noch auf Grund standen und nicht ausweichen konnten - unter den Flüchen der anderen Segler wurden mit ausgebrachten Fendern schlimmeres verhindert. Dazu hat er keine Lust, besonders nicht nachts im Gewittersturm. Sein Anker mit 30 Meter Kette wird bei zwei Meter Wassertiefe halten, da ist er sicher – sofern kein Schäkel bricht.
Wellentanz auf Legerwall
Um 2:00 Uhr hat die Flut ihren Höchststand erreicht und Sturmböen orgeln im Rigg. Der Bug reißt an der Ankerkette, aber die Peilung bleibt unverändert. Die anderen Ankerlieger - zwei Segel- und zwei Motoryachten - sind auch ausreichend weit entfernt. Die kleinere der beiden Segelyachten hat jedoch nur eine müde Petroleumfunzel als Positionslicht und ankert 100 Meter weiter. Er hätte Probleme, sie beim Ablaufen zu erkennen. Tatsächlich verlegt sie unbemerkt in der Nacht ihre Position in der tieferen Balje, die er zur Fluchtrichtung vorgesehen hat. Wie erwarten, bekommt die große Yacht am hohen Ufer Probleme, deren Anker an kurzer Kette auf Legerwall nicht mehr hält: Er schliert nur ein paar Meter, dann geraten sie bedrohlich nah an die Pfähle. Das Driften liegt nicht nur am Winddruck, sondern an den kurzen Wellen, die dazu führen, dass der hohe Bug die Kette ruckartig nach oben reißt.
Auch unser Segler bemerkt, dass mal der Strom und mal wieder der Wind die Oberhand hat. Er ist froh darüber, nur an einem großen M-Anker mit tiefhängender Kette zu schwojen. Mehrfach wechselt die Zugrichtung, doch der Anker gräbt sich immer wieder ein und das Boot könnte sich mit den Kielen und dem Ruder beim Überdriften in einer Ankerleine verfangen: Auf eine Leine und ein Ankergewicht sollte man im Watt nicht vertrauen. Der friesische Sandgrund harmoniert bestens mit Ketten. Ein Jahr zuvor hat ein Segler seinen Anker 100 Meter weiter in den Schlick geworfen hat. Tags darauf fand er sich auf dem höchsten Punkt des Wattenhochs wieder. Bis zur nächsten Springtide musste er eine Woche ausharren.
Das Gewitter zieht weiter Richtung Bremerhaven, Sturmböen legen sich. Um 03:30 Uhr wird der Seegang ruhiger und um 04:30 Uhr steht die Yacht wieder sicher auf ihren Kielen. Der Skipper verzieht sich in die Koje. Am nächsten Morgen geht er zum Anker. Der hat sich tief eingegraben und trägt kokett einen smaragdgrünen Seegrasschleier, passend zu seinem Kumpel, dem Propeller – auch er hat sich „was Schönes“ eingefangen. : Auf eine Leine und ein Ankergewicht sollte man im Watt nicht vertrauen. Der friesische Sandgrund harmoniert bestens mit Ketten.
Um 11:30 Uhr schwimmt die Yacht erneut auf. Zwei Stunden vorher hat der Segler bereits den Anker zum Boot getragen und vor dem Bug abgelegt. Als die Flut einen Meter hoch aufgelaufen ist, holt er mit der Ankerwinde die 30 Meter Kette ein. So hängt kein großes Gewicht daran - das spart Strom und der Sand wird abgespült. Ein paar Seegrasfäden pflückt er in Ruhe ab, damit sie nicht im Kettenkasten muffeln. So ist der Anker wieder sicher auf der Rolle und das Boot ist seeklar zum Kurs nach Wangerooge, als es frei aufschwimmt. Mit dem auflaufenden Strom driftet er den Prickenweg entlang, um bei 10 Zentimetern Wassertiefe gerade so rüberzurutschen. Die frühe Ankunft nach der steigenden Tide über dem Wattenhoch hat einen weiteren Vorteil: Er kommt im Hafen an, während die ersten Segler gerade abgelegt haben. So bleiben ihm die Dreierpäckchen erspart und er findet mehrere freie Boxen vor, die die anderen gerade geräumt haben. Auch das hat er am Vortag beim Ankern auf 50 Zentimeter Wassertiefe bedacht – der frühe Vogel fängt den Liegeplatz.
Schwänzchen in die Höhe: Kiele einspülen zum Ruderlagerwechsel
Der aufrechte Stand erleichtert das Bordleben. Es gibt jedoch mehrere Gründe, weswegen eine gewisse Neigung des Rumpfes von Vorteil sein kann. Darauf kann man Einfluss nehmen – auch ohne Klappspaten. Manche Boote haben im aufrechten Stand eine zum Bug hin steigende Liegefläche im Vorschiff – die Crew schläft dann mit den Köpfen nach unten. Oder man möchte eine Ruderwartung vornehmen und ein Lager austauschen? Statt des teuren Krantermins kann man im Wattenmeer sein persönliches Trockendock einrichten und die Kiele gezielt im Bugbereich einspülen.
Entscheidend ist, wie stark der Strom ab dem Zeitpunkt des Aufsetzens ist, wie lange er anhält in welchem Winkel man die Kiele dazu abstellt. Dazu sucht man sich die Spülkante einer Ablaufrinne, in der der Strom besonders lange und stark läuft. Wenn man hier sein Boot quer zum Strom aufsetzt, kann man in den ersten Minuten danach durch Maschineneinsatz oder Ruderlegen den Bug etwas mit dem Strom drehen. Dann wird an den vorderen Kanten der Strom abreißen und die Kiele unterspülen. Das kann so weit gehen, bis der Bug aufsetzt und das Heck in die Höhe ragt. Angst muss niemand haben, denn irgendwann stützt sich der Bug ab.
Dieser Option gilt für Kimmkieler und nicht für Monokieler mit Wattstützen. Ihre Stützen sind dann schnell überfordert – knicken weg oder sinken ein, wenn das Boot erst zu viel Lage erreicht hat. Das Umfallen ist dann nur noch durch einen querab ausgebrachten Anker am Fall zu verhindern. Das Boot kann dann sogar wieder aufgerichtet werden, sofern man das Fall auf eine Winsch führt. Allerdings, und davor sei ausdrücklich gewarnt, ist die Statik eines Riggs für zu starke Zugkräfte am Masttop nicht ausgelegt. Auch diese Sicherung hat ihre Grenzen. Dann ist es besser, das Boot mit ablaufendem Wasser langsam umkippen zu lassen und vielleicht ein paar Schrammen durch die Wattstützen zu riskieren.
Schwenkkiel- oder Plattbodenskipper sind davon kaum betroffen - sie fallen stets aufrecht trocken. Dafür haben sie andere Nachteile, etwa die Wartung der Schwertlager; gerade bei Schwenkkielyachten kann der Austausch des Lagers eines „Klapperkiels“ mehrere tausend Euro kosten. Insofern sind Kimmkieler und Mehrrumpfboote stets eine gute Wahl, wenn es „um die Kunst des Trockenfallens“ geht. Das Üben wird auch Langfahrseglern empfohlen, wenn auf späteren Reisen Reparaturen des Unterwasserschiffes an abgelegenen Stränden durchgeführt werden müssen.
Eines ist folglich bei jedem Trockenfallen zu bedenken, unabhängig von der Art des Bootes: Wie werden die Wetter- und Wellenverhältnisse beim Aufschwimmen sein? Im Zweifel verzichtet man einfach darauf und fährt bis zum Ende einer Balje zu einer Position, in der bei Niedrigwasser die Tiefe ohne trockenzufallen ausreicht. Im Bereich der ostfriesischen Inseln wird nach der Zwölferregel der Wasserstand mit rund drei Metern Tidenhub berechnet – im Bereich der Nordfriesischen Inseln mit zwei Metern, so ungefähr. Auf den Strandgang müssen aber auch Monokielsegler nicht verzichten, wenn sie in einer Balje ankern. Die wenigen Meter können sie durch das Wasser waten, aber im Falle einer Sturmwarnung rechtzeitig das Eisen an Bord hieven und verduften.
Holger Peterson
Die Kunst des Trockenfallens
Bilder und abgewandelter Text aus dem Buch „Wie wir im Norden segeln“, Holger Peterson