Im Frühjahr 2008, unser Sohn Samuel war gerade geboren, ging ein Traum in Erfüllung. Ich war in der Antarktis. Kojencharter auf der Sarah W. Vorwerk mit Skipper Henk. Zugleich wurde ein neuer Traum geboren. Ich wollte wiederkommen, mit der eigenen Familie auf einem eigenen Segelboot. Zwölf Jahre später, im Frühjahr 2020 sitze ich nun an Deck unserer SY Samai und schaue über die Bucht von Ushuaia zu der vor Anker liegenden Sarah W. Vorwerk. Ja, ich bin tatsächlich wieder hier.
Viel ist in der Zwischenzeit passiert. Samuels Schwester Maila wurde geboren, wir lernten Segeln, kauften ein Boot, lernten es in der Ostsee kennen und sind vor einem guten halben Jahr zu einer auf drei Jahre angelegten Weltumseglung aufgebrochen, die uns nun an das Ende von Südamerika geführt hat. Die für einen Besuch der Antarktis notwendige Genehmigung des Umweltbundesamtes liegt vor, die Samai ist ausgerüstet, vorbereitet und verproviantiert. Nun müssen wir nur noch durch eine der berüchtigtsten Gegenden der Weltmeere, der Preis für einen Besuch der Antarktis: die Drake-Passage.
Mitten im Südsommer geht es am 1. Februar 2020 los. Die Vorhersage für die nächsten Tage ist vergleichsweise ruhig. In der Tat segeln wir mit gerefftem Groß und kleiner Kutterfock bei kaum mehr als 30 Knoten hoch am Wind durch die Nacht. Doch beständig ist hier wenig. Während der Überfahrt geht die Windrichtung tatsächlich fast zweimal komplett um die Kompassrose. Immer wieder begleitet von Delfinen, Albatrossen und Cape Petrols erreichen wir nach knapp fünf Tagen Deception Island.
Ankunft in Deception Island
Die Einfahrt in den Krater beeindruckt. Deception Island ist ein mehrere Meilen großer, aktiver Vulkan mit langer, teils dunkler Geschichte. 1967 und 1970 gab es die letzten größeren Vulkanausbrüche, denen auch zwei Forschungsstationen zum Opfer fielen. An einigen Stränden tritt heute noch heißes Wasser hervor, das Hartgesottene gerne zu einem Bad nutzen. Auf der Samai finden sich jedoch keine Freiwilligen. Uns steckt beim ersten Landgang in der Antarktis noch die letzte Nacht in den Knochen, in der auflandige Böen über 50 Knoten in Kombination mit einem alles andere als guten Ankergrund für wenig Ruhe sorgten. Umso mehr genießen wir nun sonnenbeschienen den grandiosen Ausblick.
Von 1911 bis 1931 wurde in der Whalers Bay die südlichste Trankocherei der Welt betrieben. Wale wurden nicht zu Dutzenden, sondern Tausenden hergebracht, nur um sie ihrer Fettschicht zu berauben. Ihre Kadaver trieben überall umher. Heute zeugen Reste der Maschinen, Öfen und Tanks, einige zerfallende Häuser, sowie nicht zuletzt auch Walknochen von dieser Zeit. Gerade bei unserer Kleinsten sorgt das fürs verständnislose, traurige Blicke. Nur gut, dass die am Strand liegenden Pelzrobben sowie auch ein Plausch mit der inzwischen eingetroffenen Sarah W. Vorwerk für Ablenkung sorgen.
Durch die Nacht
Eigentlich sollte man Nachtschläge in der Antarktis tunlichst vermeiden. Das Problem dabei sind nicht einmal die auf dem Radar recht gut erkennbaren Eisberge, sondern die im Dunkeln kaum auszumachenden kleineren Growler und Schollen. Doch bis Enterprise Island sind es gut 100 Seemeilen, gut geschützte Zwischenstopps sind rar gesät, eine Ankunft bei Tageslicht dagegen Pflicht. Also machen wir es wie die meisten Segler hier und wagen es. Wenigsten sorgt der fehlende Wind für eine glatte See, auf der zu meinem eigenen Erstaunen selbst im Dunkeln kleinere Eisbrocken relativ gut mit dem Fernglas auszumachen sind. Doch der unbestrittene Höhepunkt dieser Nacht deutet sich akustisch an: ein Schnaufen direkt neben dem Cockpit... Schwertwale! Dieses Wort neben dem schlafenden Samuel erwähnt reicht dann auch aus, den Sohn in Windeseile an Deck zu locken, wo er mit mir (leicht zitternd) vier dieser seltenen Besucher beobachtet. Unvergesslich!
Eine Marina im Eis
Im Jahr 1916 havarierte ein Walfänger bei Enterprise Island. Heute ist das von einigen Antarktisseeschwalben lautstark bewohnte Wrack der Governoren die beste Marina weit und breit. Hier muss man sogar damit rechnen, im Päckchen zu liegen. Der Empfang ist leider wenig freundlich. Das kleine Kreuzfahrtschiff Scenic Eclipse fühlt sich in ihrer ersten Saison hier unten dazu berufen, im Namen der „International Association of Antarctica Tour Operators“ (IAATO) quasi als Eigentümer der Antarktis aufzutreten. Man fordert uns dazu auf, solange fernzubleiben, bis ihre „Operations“ beendet seien. Während wir trotzdem an der Governoren längsseits gehen, kommen gleich zwei Zodiacs vorbei und informieren unter anderem darüber, dass der Liegeplatz am Wrack für uns nicht sicher sei. Dass ihre eigene Touristenbespaßung Kajakbesuche in, sowie Tauchgänge an eben diesem ach so unsicheren Wrack beinhalten, wird dabei geflissentlich ignoriert. Glücklicherweise bleibt es der einzige Kreuzfahrer, der sich dermaßen produzieren muss.
Irgendwann haben wir zusammen mit zwischenzeitlich drei weiteren Segelbooten die Inseln für uns alleine. Mit dem Dinghy geht es vorbei an Eis und Pelzrobben zu einem kleinen Hügel. Kurzer Aufstieg, schöner Ausblick, rasante Rutschpartie nach unten. Man sollte halt nur rechtzeitig bremsen. Die Kinder bekommen nicht genug davon. Wieder an Bord gönnen sich die Eltern dann einen guten Whisky auf frisch eingesammeltem „Knistereis“. Ein wahrlich exklusiver Genuss. Schon aus einiger Entfernung hört man hin und wieder erstaunlich laute Eisstücke im Wasser treiben. Verantwortlich für das Knistern sind kleine, sich öffnende Luftblasen, über deren Alter man nur spekulieren kann. Das gibt es (fast) nur hier.
Endlich „Pinguine satt“
Auf Cuverville findet man die größte Kolonie von Eselspinguinen der Antarktischen Halbinsel. Und das riecht man schon von weitem. Man erinnere sich an die leichten Duftaromen in der Nähe der Pinguinbereiche im heimischen Zoo und multipliziere dieses mit einer beliebigen Zahl größer 100... dann bekommt man ansatzweise eine Vorstellung davon, wie sehr solche Kolonien zum Himmel und über das Wasser stinken können. Nicht ganz unschuldig sind daran natürlich auch die Jungtiere, die mit ihren Flauschefedern noch nicht ins Wasser können. Nicht zuletzt bilden auch ihre Überbleibsel die Grundlage des in weiten Teilen rötlich-schlammigen von weißlichen Bahnen durchzogenen Bodens. Auf ausgedehnten Landgängen erkunden wir vorsichtig die Kolonie. Nicht nur die Kinder sind begeistert. Endlich „Pinguine satt“... ja, wir sind offensichtlich in der Antarktis!
Bei der Weiterfahrt bekommen wir es das erste Mal so richtig mit Eis zu tun. Schon von weitem präsentiert sich die enge südliche Durchfahrt des Errera Channel weiß und gut mit Eisbergen und Eisschollen gefüllt. Doch heute lernen wir eine weitere Lektion. Mag das Wasser aus der Entfernung auch weiß erscheinen, so ist da doch ganz oft noch ausreichend Platz, um mit dem Boot hindurchzukommen - mit einer Segelyacht. . Trotzdem lassen sich Eisberührungen natürlich nicht ganz vermeiden. Erstmals hören wir dieses markante Geräusch von schabendem Eis an Aluminium. Schnell verstehen wir, warum hier segelnde Boote keine Probleme mit dem Bewuchs haben.
Stationsbesuche in Paradise Harbour
Ein „Harbour“ hat in der Antarktis normalerweise rein gar nichts mit dem erlernten Wortsinn zu tun. Im Grunde bezeichnet es nur einen mehr oder weniger geschützten Bereich von teils beachtlicher Größe. So ist auch Paradise Harbour kein Hafen im engeren Sinn, sondern eine etwa 6 mal 3 Seemeilen große Bucht. Umgeben von über 1000 Meter hohen Bergen und mächtigen Gletschern hervorragend vor Wind und Welle geschützt ist diese malerische Ecke der Antarktis ein Pflichtbesuch für Kreuzfahrtschiffe und Segler gleichermaßen. Praktisch in Sichtweite liegen hier die Stationen der sich nicht immer einigen Nachbarn Argentinien und Chile.
Der argentinische Empfang ist eher reserviert. Eigentlich benötige man wegen der aktuellen Situation eine „maritime Gesundschreibung“. Die von einer überschaubaren Pinguinkolonie umgebene Station dürften wir aber ohnehin nicht besichtigten. So klettern wir den kleinen Berg hinauf, wo selbst unsere Jüngste verträumt meint: „Ich genieße die Aussicht!“. Hinunter geht es wieder einmal laut juchzend auf dem Hosenboden.
Der chilenische Empfang ist dagegen ausgesprochen freundlich. Die offiziell militärische Station liegt inmitten einer großen Pinguinkolonie. Überall schnattert es, immer wieder laufen oder liegen Tiere auch auf dem Weg, eine kleines Plüschbaby zeigt besonderes Interesse an Mailas rosa Gummistiefel und natürlich stinkt es furchtbar. Wir dürfen uns frei umschauen, auch einen Blick in das Haus werfen und bekommen zum Abschied noch eine Erinnerungsmedaille geschenkt.
Antarktis, wie sie schöner kaum sein kann.
Nach diesem Besuch fahren wir bei strahlendem Sonnenschein weiter Richtung Süden. Immer wieder liegen Weddell- und Krabbenfresser-Robben auf Eisschollen, Pinguine springen nicht ganz so anmutig, aber um einiges niedlicher als Delfine, aus dem Wasser und zwei Minkwale lassen sich von J.S. Bach dazu bewegen, eine Zeitlang bei der Samai zu schwimmen.
Bei Cape Renard bekommen wir dann eine ordentliche Portion Wind ab. Mit Böen über 40 Knoten fahren wir in den Lemaire Channel ein, der sich auch bei diesem Wetter eindrucksvoll zeigt. Einige Tage später werden wir ihn bei strahlendem Sonnenschein erleben dürfen. Kurz vor der Ausfahrt erreicht uns ein Funkspruch von Skipper Henk. Sie liegen gleich um die Ecke nördlich von Pléneau Island und laden uns herzlich zum Asado ein.
Längsseits an der ankernden Sarah W. Vorwerk liegend verbringen wir einen geselligen Abend. Inzwischen ist es dunkel, die Familie liegt im Bett und ich räume noch etwas im Cockpit auf, da schaue ich einer Intuition folgend nach hinten... und sehe sehr deutlich die felsige Küste im Schein der Kopflampe näherkommen. Nicht gut! In dem Moment kommt auch schon Skipper Henk an Deck, startet seinen Motor und holt mit uns an der Seite seinen Anker inklusive steinigem Übeltäter hoch. Doch dann fangen unsere Probleme erst richtig an.
Es ist inzwischen etwa 1 Uhr nachts, Böen gehen mit 7 bis 8 Beaufort durch die Bucht und auf der Samai hat sich aus unerklärlichen Gründen die Fock im mittleren Bereich etwas geöffnet. Sie schlägt wild und laut umher. Das sieht nicht gut aus und klingt noch viel schlechter. Die einzig halbwegs sinnvolle Entscheidung ist, das Vorsegel soweit möglich auszurollen und runterzuholen. Doch alleine ist da nichts zu machen. Selbst wenn ich mich ran hänge, bewegt sich das Segel nicht einen einzigen Zentimeter. Zum Glück erhalte ich Hilfe von der Chartercrew der Sarah. Größtenteils keine Segler, aber durchweg willig und kräftig. So schaffen wir es gemeinsam, die Fock zu bergen. Doch währenddessen fängt auch schon das gleiche Spiel mit der kleineren Kutterfock an...
Nach einer gefühlten Ewigkeit liegen beide Vorsegel im Cockpit. Ich werde wahrscheinlich nie erfahren, warum das gerade hier und jetzt passieren musste. Erst einmal gilt es noch, den eigenen Anker zu werfen. Ganz offensichtlich ist unser aktueller Liegeplatz bei den herrschenden Bedingungen keine gute Wahl. Um halb drei haben wir unsere 100 Meter Kette erstmals komplett draußen. Was für eine Nacht.
Nach einem Ruhetag, bei dem immer mal wieder durch die Bucht treibende Growler mit Bootshaken vom Rumpf ferngehalten werden müssen, ist es wieder ruhig und sonnig. Perfekt für einen Spaziergang über die von Pinguinen bevölkerten Felsen. Hier beobachten wir ein besonderes Schauspiel. Vier Skuas (Raubmöwen) zeigen Interesse an einer kleinen Gruppe junger Pinguine. Doch die energische Verteidigung der Elterntiere lässt ihnen keine Chance. Unverrichteter Dinge ziehen sie ab. Allerdings zeigen herumliegende Pinguinskelette, dass es nicht immer gut für die kleinen ausgeht.
Eisberge in Johannessen Harbour
Bei der Zufahrt in den Johannessen Harbour ist mir zum ersten und einzigen Mal etwas mulmig. Tief Grau mit etwas Schneefall weht es entgegen der Vorhersage mit 5 Beaufort und am geplanten Ankerplatz liegen vor einer Gletscherkante Eisberge bei gut 30 Metern Wassertiefe fest. Hier sollen wir übernachten? Doch dicht am Gletscher, versteckt hinter einem der Eisberge, ist es tatsächlich etwas geschützter und auch „nur“ noch 20 Meter tief. Für Teile der Crew ist es trotzdem eine sehr unruhige Nacht. Sandra ist gegen Morgen endlich einmal richtig eingeschlafen, da weckt sie die Stimme unserer Tochter: „Das war aber laut!“ Ein schneller Blick nach draußen bringt Gewissheit. Von dem Eisberg, hinter den wir uns verkrochen haben, ist nicht mehr viel zu sehen. Er ist schlichtweg auseinandergebrochen! Dafür schwimmen nun reichlich Überreste umher. Wo ist doch gleich unser Anker? Klar doch in Richtung der Trümmer. Sitzen diese noch fest? Sie sollten wahrlich nicht über den Anker treiben. Die logische Konsequenz: Motor an und Anker hoch... sofort!
Am Wendepunkt
Ein letztes Mal nach Süden. Bei grau verhangenem Himmel fahren wir durch ein auf der Seekarte weißes, weil „unsurveyed“ Gebiet. Dutzende Eisberge treiben in Sichtweite und auf dem Radar. Unser Ziel, die schmale Mutton Cove, liegt zwischen zwei kleinen Inselchen. Wir tasten uns durch die Zufahrt und machen längsseits am Felsen fest. Inzwischen fällt wieder etwas Schnee. Die Samai liegt auf 66° S, der Wendepunkt unserer Reise ist erreicht.
Für den ersten Schlag Richtung Norden präsentiert sich die Antarktis wieder von ihrer schönsten Seite. Sonnenschein und blauer Himmel, kein Wind und ruhige See vor grandioser Küste. Schon bald zeigen sich die ersten Wale des Tages, immer wieder liegen Robben faul auf Eisschollen herum und springen Pinguine durchs Wasser. Nicht nur die Kinder sind begeistert und beeindruckt.
Doch dann liegt da auf einmal so ein großer Eisberg direkt voraus. Es stellt sich gar nicht erst die Frage, ob wir daran besser rechts oder links vorbeikommen. Ein Blick reicht: Gar nicht! Dahinter ist statt Wasser eine geschlossene, weiße, nur mit einigen Robben gesprenkelte Eisdecke zu sehen. Nein, hier ist definitiv kein Durchkommen. Wir wollen aber auch nicht den halben Weg wieder zurückfahren. Probieren wir es doch einmal gleich links...
Auch hier schwimmt Eis soweit das Auge reicht, nur mit Schleichfahrt kommen wir in diesem nicht wirklich kartierten Gebiet voran. Natürlich vernehmen wir dabei immer wieder dieses ganz eigene Geräusch von Eis, das an einem Aluminiumrumpf entlang schabt. Das lässt sich bei diesen Bedingungen nun wirklich nicht mehr vermeiden. Die nähere Umgebung ist vom Ruder noch halbwegs einzuschätzen. Doch für weiter hinten muss jemand in den Ausguck... Freiwillige vor! Natürlich ist es Samuel, der auf die erste Saling klettert und uns den Weg weist.
Ukrainische Gastfreundschaft
Im Jahr 1996 verkaufte Großbritannien ihre Faraday Station für ein Pfund an die Ukraine. Ein gutes Geschäft. Erstere mussten nicht aufräumen und letztere nicht aufbauen. Heute beherbergt die von einer Pinguinkolonie umgebene Vernadsky Station neben gastfreundlichen Forschern auch die bei unserem Besuch leider geschlossene „Best Bar in Antartica“. Doch wir erhalten eine individuelle Führung durch die Station, dürfen durchs Mikroskop schauen und die Kinder bekommen ein paar kleine Geschenke aus dem „südlichsten Souvenirshop der Welt“.
Den benachbarten Vorläufer der heutigen Station, das 1947 gebaute „Wordie House“, dürfen wir dann sogar ganz allein erkunden. Original eingerichtet und authentisch ausgestattet bekommt man hier einen guten Eindruck davon, wie Forschung in der Antarktis vor über 60 Jahren aussah.
Die Gegend rund um die Argentine Islands ist ein vielbesuchter Anlaufpunkt der Kreuzfahrtschiffe. Auf Nach Yalour Island lockt eine Kolonie von Adeliepinguinen auch uns. Der Anker fällt auf bisher undenkbaren 32 Metern, die Kette geht frei nach dem Motto „Im Ankerkasten hilft sie nichts!“ mal wieder komplett raus und hält die Samai sicher auf Position. So mischen wir uns unter die ebenfalls gerade anlandenden Touristen und „genießen“ authentische Kreuzfahrtromantik. Doch so richtig wohl fühlen wir uns dabei nicht. Es wird ein eher kurzer Besuch.
Keine 4 Seemeilen nördlich findet sich auf Petermann Island die nächste große Kolonie. Vor allem Eselspinguine empfangen hier in stoischer Ruhe den Vormittags- sowie Nachmittagskreuzfahrer, vollbeladene Zodiacs brausen umher, Kajaks erkunden die Küste, das volle Programm. Wir liegen mit vier Landleinen in der einzigen winzigen Bucht und schauen dem Treiben ungläubig zu.
Ein anderer Besucher kommt dann aber doch eher unerwartet. Gegen 1 Uhr, also wieder einmal zur dunkelsten Stunde der so weit im Süden kurzen Nacht, beschließt ein Growler, selbst etwas größer als die Samai, die hinterste Ecke unserer kleinen Bucht zu erkunden. Wären da nur nicht die Landleinen. Unter der Prämisse, dass wir jetzt mitten in der Nacht nicht hier ablegen wollen, gibt es nur eine Lösung. Das Dinghy muss ins Wasser, um die Landleinen über das dicht an uns vorbei treibende Eis zu bringen.
Am nächsten Morgen gehen die Kinder auf Erkundungstour an Land. Mit Walkie Talkies und Fotoapparat bewaffnet ziehen sie umher, immer auf der Suche nach süßen Pinguinbabys, insbesondere Adelies, aber auch Robben, Skuas, Blauaugenkormoranen und was sich sonst noch so findet. Eltern und Boot machen inzwischen dem wieder in Bewegung geratenen Besucher Platz.
Ein weiterer touristischer Anziehungspunkt ist Port Lockroy, eine im Jahr 1962 aufgegebene britische Forschungsstation. Diese wurde 1996 renoviert und in ein vom UK Antartic Heritage Trust betriebenes Museum mit Souvenirladen und Pinguin-Postamt umgewandelt. Lucy, die Chefin der Saison, ist mit bestem britischem Akzent und der inseltypischen Mischung aus Freundlichkeit und Höflichkeit immer über Funk erreichbar. Gerne dürfen wir auf einen individuellen Besuchstermin vorbeikommen und haben so die auch dieses Mal von einer Kolonie Eselspinguinen umgebene Station praktisch für uns alleine.
Nach einem interessanten Rundgang, an die Großeltern geschriebenen Postkarten und mit den obligatorischen Andenken ausgestattet, streifen wir noch etwas auf der Nachbarinsel umher. Eselpinguine watscheln durch pittoreske Walknochen, Plüschbabies jagen ihre Eltern und natürlich stinkt es. Der Rundumblick ist beeindruckend. Wie ein kleines Spielzeugboot liegt unsere Samai in der großen, von Gletschern und Bergen umgebenen Bucht. Das kann sich kein Maler schöner ausdenken.
Abschied bei den Melchior Islands
So langsam neigt sich unsere Zeit hier unten im Süden dem Ende zu. Wir müssen weiter Richtung Norden. Bei wieder einmal strahlend blauem Himmel fahren wir durch den von schneebedeckten Bergen und Gletschern gerahmten Neumayer Channel und genießen einen weiteren unvergesslichen Tag mit grandiosen Eindrücken. Immer wieder schauen Walfinnen und Robben aus dem Wasser, skurrile Eisberge glitzern in der Sonne, Pinguine springen und dann liegt da auch noch dieser dösende Seeleopard vollkommen entspannt auf seiner Scholle herum, um sich bewundern zu lassen. Das sind bleibende Erinnerungen für die ganze Familie.
Die Melchior Islands sind ein beliebter Absprung für die Drake-Passage in Richtung Südamerika. Auch wir warten hier auf ein Wetterfenster, doch es sieht nicht gut aus. Sowohl die Vorhersagen von bis zu 9 Beaufort als auch die von vorbeischauenden Zodiacs berichteten unglaublichen 100 Knote Wind lassen keine andere Entscheidung zu. Auch wenn unser von Umweltbundesamt und der Versicherung offiziell zugestandener Besuchszeitraum abläuft, ist an eine Abfahrt nicht zu denken. Wir genießen in unserer malerischen Bucht noch ein paar Tage mit Sonne und Schneefall, bereiten die Samai für die Überfahrt vor, füllen den Wassertank mit Gletscherwasser, vernichten den letzten deutschen Glühwein, rutschen auf dem Hosenboden den Hang hinunter, machen eine Schneeballschlacht und die Kinder bauen einen Schneemann, der uns zum Abschied hinterherschaut.
Das Warten hat sich gelohnt. Mal mit Segeln, mal unter Motor und mal mit beidem beenden wir unseren Besuch in der Antarktis bei maximal 7 Beaufort. Nach gut vier Tagen Drake Passage kommt wieder Land in Sicht, es ist geschafft. Unvergessliche Eindrücke lassen die ganze Familie gedankenverloren in die Ferne schauen. Wieder ist ein Traum in Erfüllung gegangen.
Doch was ist das? Liegt da etwa das Samenkorn eines neuen Traumes im Hinterkopf? Wir haben viel erlebt und gesehen. Es war eine wunderschöne, beeindruckende Zeit und natürlich auch ein großes Privileg. Doch da gibt es doch noch so viel mehr. Wie wäre es, irgendwann mal wieder...? Nein, das ist doch Quatsch... oder doch nicht? Die Zeit wird zeigen, ob da ein neuer Traum heranwächst. South Georgia? South Shetland Islands? Detaille Island? Wenn es eine Gegend der Welt gibt, die es wert ist, einen Traum wachsen zu lassen, dann liegt sie hier ganz unten im Süden: Die Antarktis!
Michael Gramse (Text und Fotos), SY Samai, www.sy-samai.de, mit Sandra Gramse, Samuel (inzwischen 14) und Maila (inzwischen10))