Als wir im vergangenen Jahr unsere erste Atlantiküberquerung geplant haben, war das aufregend. Wir wussten nicht, was uns erwartet, wir waren unsicher über die Dauer, über unsere Proviantierung, über unsere Fähigkeit, wirklich mehrere Wochen ohne „Auslauf“ auf engem Raum zusammen zu leben. Wir waren unsicher, aber wir waren auch zuversichtlich.
Na klar, wir hatten viel darüber gelesen, uns vorbereitet, herangetastet, das Boot ausgerüstet, um uns weitgehend autark zu machen, alles Sicherheitsrelevante an Flora nochmal getestet, Proviant gebunkert.
Das Boot auf eine Passage vorzubereiten war eigentlich nicht schwer. Aber waren wir vorbereitet, unsere eigene Psyche? Das war schwerer zu beurteilen. Natürlich waren wir nervös und mindestens im ersten Teil der Passage war auch die Last der Verantwortung deutlich spürbar. Erst im Laufe der Zeit stellte sich mehr Leichtigkeit ein, mit jedem Tag ein bisschen mehr Routine und weniger Besorgnis, bis ab etwa Mitte der Reise von den Kapverden nach Bequia der Genuss deutlich überwog.
Und positiv ging’s weiter: Bequia, die Tobago Cays, Carriacou, dann den Bug nach Norden gerichtet und über St. Vincent, St. Lucia, Martinique, Dominica, die Îles des Saintes und die Westküste von Guadeloupe nach Antigua und Barbuda. Traumhafte Ankerplätze, wunderschöne Wanderungen, freundliche Einheimische. Kein einziges Mal negative Erfahrungen mit aufdringlichen Boatboys oder mit Kriminalität. Stattdessen sehr positive Erfahrungen der Gemeinschaft unter den Seglern vieler Nationen.
Und dann: Ausgangssperre hier in Antigua. Wir sind auf einer traumhaften Insel in der Karibik, genießen die Sonne und das warme Wasser, pendeln mental allerdings manchmal zwischen einem fast freudigen “wie eine Atlantiküberquerung, nur mit weniger Geschaukel und nachts ruhig durchschlafen” und dem weniger guten Gefühl, eben doch irgendwie angebunden zu sein. Alles in allem unbekannt und deswegen auch wieder aufregend. Aber diese stationäre Ozeanpassage ist nicht nur ungeplant, sondern wohl auch perspektivisch planlos.
Nun ist eine Planung ja die gedankliche Vorwegnahme von Handlungsschritten in Bezug auf ein Ziel. Man wägt Handlungsalternativen gegeneinander ab und fragt sich, wie man am besten das dem eigenen Gestaltungswunsch entsprechende Ziel erreicht. Oder simpler: Was möchte man, was geht, wie geht’s?
Corona hat weltweit dafür gesorgt hat, dass bisherige Planungen (Reisepläne allemal, aber auch wesentlich wichtigere, manchmal gar existenzielle Dinge) durch den gedanklichen Schredder liefen. Gefühlt geht das jetzt schon lange Zeit so, tatsächlich aber ist die Bedrohung durch die Covid-19-Erkrankung überwiegend erst ab etwa Ende Februar langsam in das Bewusstsein der meisten Menschen der westlichen Welt gesickert.
Dabei gehört es ja zum Wesen jeder Planung, dass es eben auch anders kommen kann. Dann muss man die Planung überarbeiten, einen geänderten Plan machen. Handlungsalternativen neu bewerten. Allerdings: welche Handlungsalternativen? Die mittlere der simplen Fragen, “Was geht?” ist in Corona-Zeiten jedenfalls für die nähere Zukunft nicht einfach zu beantworten.
Für die Crew der Flora und für die meisten Segler hier in der Karibik ist die Begrenzung “nähere Zukunft” verknüpft mit dem Beginn der Hurrikansaison. Die ursprüngliche Planung sah dafür fast durchgehend vor, aus dem Hurrikangebiet herausgesegelt zu sein. Nach Norden an die US-Ostküste (unser Plan), nach Süden (je nach Versicherungsbedingungen Grenada, Trinidad, Kolumbien oder gar Surinam), nach Osten über den Atlantik zurück Richtung Europa oder nach Westen durch den Panamakanal in den Pazifik, letzteres dann idealerweise schon ein paar Monate früher.
Offiziell beginnt die Hurrikansaison am 1. Juni und endet am 30. November. Unsere Versicherung hat eine Ausschlussklausel für Sturmschäden im Hurrikangebiet in der Zeit vom 1. Juli bis 15. November. Und tatsächlich treten Hurrikans in der Karibik typischerweise erst ab Juli auf. Blöderweise zeigen sie keine allzu große Neigung, sich an Regeln zu halten, 2016 etwa hat sich Hurrikan Alex Mitte Januar (!) über die Bermudas und die Azoren hergemacht. Davon abgesehen waren die jeweils ersten Hurrikans der letzten fünf Saisons: Danny ab 18.08.2015, Earl ab 2.8.2016, Franklin ab 7.8.2017, Beryl ab 5.07.2018 und Berry ab 11.7.2019. Statistisch hätten wir also jetzt Mitte April noch mehr als zwei Monate Zeit. Etwas komplizierter wird es noch dadurch, dass 2020 ein “El Niño”-Jahr erwartet wird, was das Wettergeschehen nochmals durcheinanderbringt. Nebenbei bemerkt: die Namen der Stürme beginnen in jedem Jahr mit A und arbeiten sich dann im Alphabet weiter, die Anfangsbuchstaben der ersten Hurrikans der Jahre zeigen also, dass jeweils vorher schon benannte tropische Stürme auftraten. Die haben aber eben nicht Hurrikanstärke erreicht, wir möchten ihnen aber trotzdem mit dem Boot nicht begegnen.
Gleichwohl: Schauen wir bei uns selbst zurück, beschäftigt uns Corona etwa seit weniger als zwei Monaten und hat in dieser Zeit Veränderungen mit sich gebracht, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Wie sollen wir jetzt die Veränderungen der nächsten Monate abschätzen?
Bei einem Treffen von Blauwasserseglern wird typischerweise zunächst nach dem gegenseitigen “woher” und “wohin” gefragt. Man kann Erfahrungen austauschen, vielleicht gemeinsame Pläne schmieden. Manchmal bekamen wir auf unsere Fragen auch wunderschöne offene Antworten wie: “Wohin der Wind uns treibt, wir sind ja Zeitmillionäre.” Oder fast philosophische wie: “Unser Plan ist, keinen Plan zu haben.”
Derzeit bewirkt die Corona-Krise, dass von allen Reiseplänen nur der Plan keinen Plan zu haben ziemlich gut aufgeht.
Das lässt sich in der Praxis aber nur schwer aushalten, wenn es nicht mehr darum geht, aus den vielen Optionen spontan die günstigste zu wählen, sondern wirklich PLANLOS darauf zu warten, dass sich (bis zum Beginn der Hurrikansaison) irgendeine Option auftut.
Vielleicht ist so auch zu erklären, dass aus der Zurückseglergruppe Wünsche geäußert wurden, die ein großes Presseecho in Deutschland ausgelöst haben und deshalb auch zu besorgten Rückfragen bei uns geführt hat, bei den Adressaten, bei uns und auch bei vielen anderen Seglern aber Befremden auslösen. Der überzogene Wunsch einer Begleitfregatte der Bundesmarine für den Rückweg über den Atlantik nach Europa erweist den seemännisch sehr viel einsichtigeren Forderungen nach dem Einsatz für Planungssicherheit ermöglichende offene Nothäfen und Quarantänestege beziehungsweise Quarantäne-Ankerbuchten aus unserer Sicht einen Bärendienst. In der Gruppe befinden sich neben geplanten Atlantikrunde-Seglern auch Crews von Booten, für die ursprünglich andere Pläne galten, die sich selbst nicht optimal aufgestellt sehen und die damit verständlicherweise ein höheres Maß an Planbarkeit für nötig erachten.
Für uns auf der Flora ist die Rückreise über den Atlantik derzeit keine Option. Mindestens mal für die nächsten zwei Monate versuchen wir die Nichtplanbarkeit zu akzeptieren und hinsichtlich der Weiterfahrt planlos zu sein.
Solange es uns möglich ist, wollen wir hier auf Antigua genießen, was bei diesen Umständen genossen werden darf und relativ sicher genossen werden kann. Unser Boot, unseren Ankerplatz und die Möglichkeit, diesen zu wechseln. Selbst gelegentliche Segeltörns sind erlaubt, wenn zuvor mit der Küstenwache abgesprochen wird, dass diese dem Herausfahren aus der 5-Meilen-Zone dienen, um den Wassermacher laufen zu lassen oder den Fäkalientank zu leeren (die eigentlich in Jolly Harbor vorhandene Absaugstation ist defekt).
Es war keine große Überraschung für uns, dass die Regierung von Antigua und Barbuda den seit einer Woche bestehenden „Curfew“ (die Ausgangssperre) jetzt vor Ostern verlängert hat. Eher schon, dass dies erstmal nur für eine weitere Woche gilt und es – außer dem nunmehr zur Pflicht gewordenen Tragen einer Schutzmaske – keine Verschärfungen gibt. Zuvor gab es Gerüchte, dass alle Geschäfte (auch Supermärkte) schließen müssten. Die Aussage des hiesigen Premierministers, er sehe keinen Sinn in einem Zurückfahren der Maßnahmen bis es eine Medizin gegen Corona gäbe, die hat dann allerdings doch für einiges Stirnrunzeln bei Seglern und einheimischer Bevölkerung gesorgt.
Und wie sieht der 24/7-Curfew hier auf Antigua also weiterhin aus? Spazierengehen und Sport (auch alleine) ist nicht gestattet, der Strand ist komplett leer. Wir dürfen aber ums Boot schwimmen und in Bootsnähe Standup-Paddeln, das hat die Coast Guard ausdrücklich bestätigt. Man darf ja auch in seinem Garten Sport treiben. Eine maßvolle Auslegung, für die wir sehr dankbar sind.
Von den Geschäften darf nur „essential business“ aufmachen, vor Ort sind das Supermarkt, Pharmacy (eher eine Drogerie als eine Apotheke), die Werft (einschließlich Wäscherei und Gasflaschen-Füllservice auf deren Gelände) und außerdem der Budget-Marine Bootsausrüster (!). Landgänge beziehungsweise Dinghyfahrten sind dann auch ausschließlich zu diesen Geschäften und zu keinem anderen Anlass gestattet. Verstöße gegen die Ausgangssperre werden hart bestraft. 2.500 oder 5.000 EC$ Geldstrafe (850 oder 1700 Euro) oder ein halbes Jahr Gefängnis drohen, wenn man erwischt wird. Sowohl diese Geldstrafen als auch die Gefängnisstrafen sind jetzt schon mehrfach verhängt worden.
Also beschränken wir uns auf das, was zulässig ist. Am Gründonnerstag haben wir zum ersten Mal seit der Ausgangssperre wieder eingekauft und unseren Bestand an frischen Lebensmitteln wieder aufgefüllt. Der einzige Supermarkt hier am Ort ist immer noch gut sortiert und hat auch praktisch keine Regallücken. Allerdings muss man mit zwei bis vier Stunden Anstehen rechnen. Bei unserem Einkauf liegen wir genau in der Mitte, drei Stunden verbringen wir in der Warteschlange vorm Supermarkt. Masken oder sonstige Bedeckung von Mund und Nase sind Pflicht. Abstand ebenso, beides wird kontrolliert. Übrigens hat ein anderer Ankerlieger in der Funkrunde selbstgenähte Masken zum Verschenken angeboten, ein anderer das Einkaufen für Ältere oder Risikogruppenangehörige. Die Gemeinschaft ist klasse hier.
Und wenn wir jetzt verstärkt auf uns und unser Boot zurückgeworfen sind, lässt sich das trotzdem vergleichsweise gut aushalten. So sieht’s aus!
Und nun kommt auch gleich das erste Update:
Der Curfew ist nochmals um eine weitere Woche (Stand 17.4.) verlängert worden, erlaubt bis auf weiteres aber seit heute, dass man vormittags (unter Wahrung des Social Distancing) zwischen 7 Uhr und 12 Uhr wieder spazieren gehen, joggen oder radfahren darf.
Ralf Gerking, SY Flora